Ines Fischer ist Asylpfarrerin in Reutlingen und kennt die persönlichen Geschichten von Geflüchteten. Welche Herausforderungen ihr in ihrer täglichen Arbeit begegnen, verrät sie im Interview.
Interviewende: Janina Bytzek und Jonathan Hille (Universität Stuttgart)
Begrüßung und Bestandsaufnahme
1. Stellen Sie sich kurz vor: Was ist genau Ihre Funktion/Aufgabe?
Ich bin Asylpfarrerin im Kirchenbezirk und in der Prälatur Reutlingen, arbeite in der Beratung von geflüchteten Menschen im Asylverfahren und in der Duldung. Der zweite Teil meiner Arbeit besteht in der Öffentlichkeitsarbeit zu den Themen Flucht und Migration.
2. Kurze Bestandsaufnahme: Wie viele Geflüchtete kommen über den Seeweg aktuell ungefähr zu Ihnen?
Prozentzahlen kann ich leider nicht wiedergeben, da die Fluchtwege sich auch verschoben haben. Fakt ist jedoch, dass es für geflüchtete Menschen so gut wie keine legale Möglichkeit gibt, nach Europa zu kommen. Das heisst: So gut wie alle müssen illegalisierte Fluchtwege in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangen. Manchmal ist das der Seeweg, manchmal auch gefährliche Wege über Berge und durch Wälder.
3. Stellen Sie eher eine Abnahme/Zunahme der Zahlen (z. B. in diesem Jahr) fest?
Im letzten Jahr stelle ich eine eklatante Zunahme der Beratungszahlen fest. Das hat etwas damit zu tun, dass bei vielen Geflüchteten das Verfahren nun zu ende geht und die Frage nach Perspektiven im Raum steht. Ich merke aber in den letzten Monaten auch, dass es immer wieder auch Neueinreisen gibt: Es handelt sich dabei um Menschen, die unter widrigsten Bedingungen nach Europa kamen, bspw über Griechenland und dort in den Flüchtlingscamps waren. Es ist verheerend, wie mit diesen Menschen umgegangen wird. Und es ist klar, dass es lange dauert, bis diese Menschen wieder einigermaßen stabil sind.
Technik als Gatekeeper/-opener
4. Welche technischen Hilfsmittel verwenden Sie in der direkten Arbeit mit den Geflüchteten (z. B. Smartphone/Messenger Dienste)? Welche Technik steht den Geflüchteten zur Verfügung (Stichwort Smartphone/Messenger)?
Neben der persönlichen Beratung verwende ich selbst Festnetz, Handy, Messengerdienste.
In manchen Unterkünften steht WLAN zur Verfügung, so ist eine Kontaktaufnahme auch ausserhalb der persönlichen Begegnung möglich.
5. Wie wichtig sind diese auf der Reise über den Seeweg?
Ich gehe davon aus, dass eine Flucht ohne technische Hilfsmittel schlichtweg nicht möglich ist.
6. Gibt es in der Kommunikation zwischen/mit den Geflüchteten aus Ihrer Sicht an irgendeiner Stelle Verbesserungsbedarf?
Es wäre ganz wichtig, dass alle Geflüchteten Zugang zu einem funktionierenden WLAN haben. Das ist bisher nur in den Erstaufnahmeeinrichtungen gesetzlich verbrieft. In der vorläufigen Unterbringung und in der Anschlussunterbringung stehen den Menschen oft keine funktionierenden Netze zur Verfügung.
7. Inwiefern sind solche Techniken für Geflüchtete essentiell für die Integration in Deutschland?
Gerade in Coronazeiten hat sich herausgestellt, dass diese Techniken wirklich überlebenswichtig für die Menschen sind: Sprachkurse fanden nur online statt, die Digitalisierung ist auch bei den Ämtern im Vormarsch. Man merkt aber, dass unsere Verwaltung leider oft nicht darauf eingestellt ist, mit geflüchteten Menschen auf diesem Weg zu kommunizieren. Es gibt ja auch Menschen, die nie lesen und schrieben gelernt haben. Diese haben zu einer digitalen Kommunikation mit Behörden bspw über Mail schlichtweg keinen Zugang. Es wird dann immer jemand im Hintergrund benötigt (oftmals Ehrenamtliche).
8. Was sind die Risiken solcher technischer Möglichkeiten für den Erfolg der Integration (z. B. in Bezug auf Datenschutz)?
Es ist wichtig, dass die Verschwiegenheitspflicht gewahrt bleibt. Insofern ist es auch notwendig, sichere Messenger zu verwenden. Die zentralen Informationen sollten immer in einem direkten Beratungsgespräch geklärt werden. Von einer Kommunikation per whatsapp raten wir grundsätzlich dringend ab.
Haptische Grenzen
9. Inwiefern können haptische Barrieren (z. B. Push-backs vor den Küsten/Grenzzäune) die Flucht erschweren?
Je höher Grenzzäune gezogen werden und je mehr Abschottungsanlagen installiert werden, umso schwieriger und gefährlicher wird die Flucht. Politisch wird in der Europäischen Union davon ausgegangen, dass eine hochgerüstete Grenze die Menschen von einer Flucht abhält. Die Fluchtursachen werden aber durch die Grenzzäune nicht beseitigt – die Flucht wird nur erschwert. Wir sehen in den letzten Jahrzehnten, dass die Fluchtrouten sich verändern, immer gefährlicher werden und immer mehr Menschen sterben. Das ist ein politischer Zustand, den man nicht hinnehmen kann und bei dem die Frage nach Menschenrechten ein zentrales Argumentationskriterium sein muss. Pushbacks an den Grenzen der Europäischen Union sind mit dem Unionsrecht nicht vereinbar – trotzdem geschehen sie tagtäglich. Es ist unsere Aufgabe als Akteur*innen der Zivilgesellschaft, darauf immer wieder hin zu weisen.
10. Können Sie aus Gesprächen mit Geflüchteten berichten, die besonders mit solchen Hürden zu kämpfen hatten?
Im Grunde genommen steht jeder geflüchtete Mensch, der in die Europäische Union fliehen will, vor solchen Herausforderungen. Diese unterscheiden sich nach regionalen Gegebenheiten – aber es ist immer furchtbar, was die Menschen auf ihrer Flucht erleben – sei das in Libyen, in Griechenland oder in Bosnien.
Rechtliche Grenzen
11. Mit welchen anderen politischen Gesprächspartnern stehen Sie in Kontakt? An welcher Stelle entstehen politische/wirtschaftliche Schnittstellen?
Akteur*innen aus den Wohlfahrtsverbänden, NGOs und mit Politiker*innen. Wir versuchen unsere Öffentlichkeitsarbeit so breit wie möglich anzulegen und so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Das ist insofern wichtig, da wir immer wieder merken, wie groß die Informationsdefizite oft sind.
12. Inwiefern spielen beispielsweise Behörden als Hindernisse für die Geflüchteten eine Rolle?
Die Bürokratie in Deutschland ist sehr ausgefeilt, viele Formulare sind für die Betroffenen nicht verständlich und auch nicht lesbar. Auch eine direkte Übersetzung trägt oft nicht dazu bei, dass die Sachverhalte verstanden werden. Es geht in unserer Arbeit oft darum, die Sachverhalte in eine leichte Sprache zu übertragen und bildhaft und anschaulich zu erklären, worum es bei den Schreiben oder Terminen bei Behörden geht.
13. Welche Rolle spielt die Digitalisierung hierbei? (Stichworte: Asylanträge, Abschiebungen)
Hierzu fallen mit zwei Beispiele ein:
1. Die Digitalisierung hat im Rahmen der Asylantragstellung dazu geführt, dass für Behörden sehr schnell nachvollziehbar ist, auf welchem Weg eine Person in die Europäische Union gekommen ist. Mittels Fingerabdruck kann dies festgestellt werden.
2. Dass vieles auf dem digitalen Weg geschieht, macht oft nicht mehr deutlich, welche Person genau für die Bearbeitung der jeweiligen Anträge zuständig ist. Dies führt dazu, dass keine direkte Kommunikation für uns als Beratungsstelle mehr möglich ist. Das ist oft sehr schade, weil sich manches auf dem direkten Weg viel schneller klären ließe.